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Der Geschmack der Rebellion

Erste 5 Seiten – Kostenlose Vorschau

In einer verregneten Megastadt hat Marta Kirschtau die seltene Macht, mit ihren Gerichten Erinnerungen freizulegen und sensorische Netzwerke zu täuschen. Als Aurelia Vorrath, die mächtige Stimme eines geschalteten Zungenprogramms, beginnt, den Geschmack der Menschen zu kodieren und damit Gefühle, Wahrheiten und Zustimmung zu steuern, wird Mariannes Küche zum letzten freien Labor. Mit fermentierten Allianzen, Kupferzucker und einem Abschiedsbrei, der mehr ist als Komfortessen, schmiedet Marta ein Gegengericht — eine kulinarische Waffe gegen technokratische Kontrolle. Wenn Aromen zu Politik werden, entscheidet nicht mehr das Gesetz, sondern die Zunge: eine öffentliche Zungenprobe bringt die Stadt an die Löffelränder. ‚Der Geschmack der Rebellion‘ ist ein sinnlicher Science‑Fiction‑Noir über die Intimität der Sinne, die Gewalt der Sprache und das Recht auf unmanipulierte Erinnerung. Es erzählt, wie Widerstand durch Handwerk und Gemeinschaft möglich wird — und welche Opfer nötig sind, um die eigene Wahrnehmung zurückzugewinnen.

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Der Regen legte die Stadt in eine glänzende Glasur, als hätte jemand Karamell über Beton gegossen. Hinter dem flackernden Hologramm eines Fischhändlers lag Martas Küche: ein langer Tresen aus geschwärztem Holz, eine Reihe Porzellanschälchen, die leise vibrierend Gespräche sammelten, und ein Herd, der atmete wie ein Tier. Marta Kirschtau stand über einem Topf, die schmale Gestalt im Schatten, die Narbe entlang der Kinnlinie ein blasses Ausrufezeichen. An ihrer rechten Zahnreihe blinzelte die mattierte Silberlücke, und unter der Haut summte das Implantat, das ihre Messer auf genau jene Temperatur brachte, bei der Zwiebeln ehrlich wurden.
Der heutige Sud hieß Nebelsuppe, ein Rezept, das Rauschen kochte: Estragon gegen Mikrofone, gerösteter Fenchel als Schirm für neugierige Sensoren, Lorbeerblätter, in Salz eingeritzt mit Koordinaten. Marta nannte ihre Gabe den Geschmack des Gedächtnisses. Trauer roch bei ihr nach Mohn; Lügen hinterließen einen metallischen Nachhall; Kindheit war der Duft von gebranntem Zucker, der klebrig blieb, egal wie oft man die Zunge daran rieb. Sie tauchte den Löffel ein, kostete, und an der Oberfläche zuckte der Regen, als ob der Topf die Stadt zurückschmeckte.
Tullia Salzern schob die Hintertür auf, eine Silhouette aus Mehlstaub und Misstrauen. Ihr platinweißes Haar glitzerte wie ausgeschabte Reste einer Schüssel, und die augmentierte Hand schnurrte, als sie eine Kiste auf den Tisch stemmte. Ihre Augen waren dunkel wie eingekochte Zwiebelsuppe. „Regen bringt euch Untergrundköchen immer die gleichen Gäste“, murmelte sie. „Hunger, Schuld, und ein Bote, der zu spät ist.“
Marta nickte kaum merklich. „Was hast du mir mitgebracht, Tullia?“ Tullia zog die Schulter hoch, die Metallhand klackte. „Vergessene Hefe, zwei Zitronen aus einer Verwertungslinie, die die Sensoren nicht kennen sollten, und etwas Brot vom Meeresufer. Geschmacksarchäologie sagt, jemand hat darin eine Nachricht gebacken.“ Sie beugte sich über den Topf und sog die Luft ein. „Du webst Lügen in Linsen. Gut. Jemand wird zuhören, obwohl er nicht will.“
Ein Kind, das sich selbst in eine Kapuze eingewickelt hatte, stand an der Schwelle, die Finger blau vom Regen. Seine Augen waren leer wie ein ausgeschabter Topf. Marta reichte wortlos einen Löffel, der dampfte wie ein Versprechen. Als die Nebelsuppe die Lippen berührte, flackerte die Luft: ein kurzer Hauch von warmem Teig, eine Küche mit niedriger Decke, eine Stimme, die einen Namen sang. Die Augen des Kindes füllten sich. „…Juno“, flüsterte es, als hätte der Löffel den Namen aus dem Nebel gefischt. Marta nickte. Sie lächelte nicht, aber es roch kurz nach geriebenem Apfel.
Edda Nachtzucker kroch in den Raum wie der Duft von zu lange gelassenem Karamell. Klein, gedrungen, der Zopf schwer von Zimtstangen und Notizzetteln, stellte sie ein kleines Glas auf den Tresen. Darin schimmerte etwas, das aussah wie eingefangener Regen. „Regengrau“, sagte sie, und ihre Stimme klang wie zerbrechendes Glas. „Konzentrat. Ein Tropfen, und du erinnerst dich an nassen Stein und warme Hände, die dich halten. Verkohlte Kindheit, wieder genießbar. Ich will dafür einen Namen, der nicht deiner ist.“

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„Ich zahle in Daten, wenn ich muss“, antwortete Marta, die Finger bereits am Glas. Edda zuckte ein Mundwinkel. „Gefühle sind teurer geworden, seit die Konzerne sie portionieren.“ Ihre Phiole klirrte, als sie sie an das Regal hängte. „Sag deiner alten Lehrerin, dass ihre Abschiedsbreie im Norden kursieren. Jemand verkauft Zeit in Dosen.“ Der Name blieb ungenannt, aber er wehte in den Raum wie ein Stechschritt über Kies: Edda Nachtmahl, die Rezeptomantin, deren Suppen Tage zurückspulten und Schmerzen auswischten, wenn man den Preis nicht scheute.
Draußen flammten die Stadtleinwände auf, und die Geräuschporzellane auf Martas Tresen schabten leise, als würden sie an einem unsichtbaren Knochen nagen. Eine Frau erschien, hochgewachsen, das Haar zu einem silbernen Rührbesen geflochten, der linke Unterarm eine matte Legierung, in deren Gelenken Stahl glänzte. Aurelia Vorrath lächelte und ließ die Worte mit der Präzision einer Küchenwaage fallen. Der Raum füllte sich mit der Idee von karamellisiertem Zucker, Kupfer und der kühlen Schärfe frisch geschnittener Kräuter. „Bürgerinnen und Bürger“, sagte sie, „das Konservenkonsortium bringt euch Klarheit. Eine Erinnerungssuppe pro Haushalt, kostenfrei. Wir entlasten die Zunge von irreführenden Geschmäckern.“
Marta schmeckte an der Luft den metallischen Nachgeschmack, der Lügen verriet. Zwischen Aurelias Silben zischte die Wahrheit wie Fett in einer Pfanne: Gehorsam, dosiert. „Sie will Zungen standardisieren“, murmelte Tullia. Die Regenrinne über der Tür tropfte im Takt von Sirenen. Mikrohungrige Drohnen, gebaut, um Gerüche zu protokollieren, zogen wie Mücken am Fenster vorbei. Marta legte einen Sternanis in die Flamme, und ihr Fleischermesser mit leitender Klinge erwärmte sich, bis es den Raum in eine andere Tonlage stimmte. Der Sud fickte die Sensoren, ließ sie denken, sie rochen nur Regen.
Es gab Zeiten, in denen Marta in weißen Räumen stand, in denen der Boden nach Zitrone und Angst roch. NutraSYN hatte ihr beigebracht, wie man Rezepte in Wände gravierte und Menschen in Geschmäcker. Sie hatte Manuskripte gestohlen, während eine Sirene so hell schrie, dass selbst die Spüle zu bluten schien. Jetzt führte sie Ausreißer, Ex-Genetiker, Straßenköche – und das müde Wissen, dass alles, was nährte, auch schneiden konnte. Ihre Silberzahnlücke kühlte, als sie die Zunge dagegen presste. „Ein Löffel kann die Stadt drehen“, sagte sie zu niemandem, als wäre es ein Gebet.
Ein Kurier schlüpfte herein, das Gesicht verhüllt vom Dampf, der die Tür küsste. Er stellte eine Blechdose auf den Tresen, schwer wie Schuld, versiegelt mit dem Emblem des Konsortiums. Tullia schnaufte. „Ich kuratiere keine Fallen.“ Ihre Metallhand klapperte, doch sie blieb. Die Porzellanschälchen auf Martas Tisch begannen zu summen, als schrieben Stimmen durch die Luft. Edda Nachtzucker drehte ihr Regengrauglas, und der Inhalt schimmerte, als wüsste er mehr als alle.
Marta entriegelte das Glas Regengrau mit einer Drehung, die einem Geheimnis glich. Ein Tropfen auf die Zunge brachte die Erinnerung an nasse Steine, Stiefel, die rutschten, und Hände, die eine Schürze banden. In der Süße verbarg sich eine Schärfe, die Buchstaben aufschloss: ein Rezept, in Sirup kodiert. „Abschiedsbrei, Variante Nord: Getreide, Salz, eine Schuld. Treffpunkt: Verlassene Färberei. Jemand verkauft Zeit in Dosen – und deine Zunge ist der Schlüssel.“ Die letzten Worte schmeckten nach Kupfer.

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Dann klopfte es dreimal an der Hintertür, in der Gewürzfolge von NutraSYN: kurz, lang, kurz. Der Sud, eben noch Regen, bekam einen Glanz von karamellisiertem Zucker, die Luft einen Hauch von frischer Minze über Stahl. Tullia hob das Kinn, Edda Nachtzucker hielt den Atem an, und Marta legte die Finger um den warmen Rücken ihres Messers. „Sie kocht mit uns“, flüsterte sie, und der Raum roch plötzlich nach Entscheidung.
… Kräutern — frisch geschnittener Schnittlauch auf kaltem Stein. Das Klopfen starb, der Sud hielt den Atem an. Marta legte die Finger an den Griff ihres leitenden Messers, schickte einen Impuls in die Klinge, bis die Hitze sanft wie eine Katze in den Rücken kroch. Karamellisierter Zucker, ein zarter Hauch von Kupfer: Aurelias Signatur wehte durch den Spalt der Hintertür wie ein Gerücht.
Als sie öffnete, stand Tullia Salzern im Regen, klein, gedrungen, der Dampfkochtopf an ihrer Prothesenhand eingehakt wie ein weiterer Knochen. Neben ihr Edda Nachtzucker, Mantel nach verbrannten Orangen duftend, die Zopfspitzen gespickt mit Zimtstangen; die kleine Glasphiole an ihrer Schürze klirrte im Takt ihres Atems. "Du kochst zu laut", sagte Tullia trocken. "Die Palate Patrol hat Ohrläppchen an den Dachrinnen."
Edda Nachtzucker hielt ein Glas hoch, in dem das Grau des Regens in feinen Schlieren hing. "Kindheitsabend, Hoflaterne, Niesel bis zum Hals — Regengrau, Jahrgang heute." Ihr Ton war wie zerbrechendes Glas. "Und eine Beilage: Lieferkettengeflüster. Das Konsortium nennt es Palatum-Protokoll. Sie wollen die Zunge nicht nur füttern, sondern stimmen. Ein Sirup im Wasser, eine Hymne im Brot."
"Zungensteuer ändert heute Nacht den Kurs", ergänzte Tullia und schob den Topf über die Schwelle. "Neuer Algorithmus. Wer aufmuckt, schmeckt Metall bei jedem Nein. Wer nickt, kriegt Aprikose im Hals."
Eine Stimme, leiser als Rauch, flackerte aus dem hinteren Schatten der Küche. "Aprikose verdirbt bei Angst. Du brauchst Mohn." Edda Nachtmahl trat aus dem Dampf, als habe ihn nur die Geduld zusammengehalten. Ihre Hände rochen nach Salz und vergorenem Zitrus, die feinen Narben über dem Handrücken waren Schrift, die den Dampf lesen konnte. Sie legte einen Rezeptstreifen auf das Holz: Mohn, Gerste, Pfirsich getrocknet, Salz der Tunnel — Abschiedsbrei, in Klammern: für eine letzte Erinnerung oder ein letztes Vergessen.

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Marta nickte kaum sichtbar, probierte zuerst Luft, dann das Schweigen. Ihr Gaumen war ein Archiv; ein Hauch von Mohn: Trauer in Tullias Stimme, metallischer Nachgeschmack, fein wie Besteck: eine Lüge, verschachtelt. Bei Edda Nachtzucker flackerte Karamell — ungesagte Wahrheit, klebrig und wach. "Wer bringt euch?" fragte Marta.
"Niemand, den man noch zählen kann", sagte Tullia. Ihre Worte schmeckten nach altem Kaffee. "Ich habe… eine Variante verkauft. Eine Verdünnung deines Linsenknotens. Markthalle gegen Winter. Keine Namen." Sie hob abwehrend die Prothesenhand. "Ich habe die Hefe ausgetauscht. Niemand erinnert sich vollständig. Es ist nur Brot, Marta."
"Brot ist Gesetz, wenn man hungrig ist", sagte Edda Nachtmahl, und ein winziger Humorstrich schnitt durch ihre Stimme. "Wir können streiten, oder wir kneten Gegengesetz. Der Sirup wird heute Nacht in die Leitungen gehen. Mohn bindet das Metall, wenn du ihn im richtigen Takt röstest. Ich liefere den Brei. Aber ich fordere eine Schuld."
Marta öffnete ihr Notizbuch, Gewürze gepresst wie alte Briefe. Jedes Etikett ein Name, ein Datum, eine Schuld. Der Geruch von gebranntem Zucker öffnete eine Kindheitstür in ihr, und sie schloss sie sofort. "Was willst du?"
"Einen Namen", sagte Edda Nachtmahl schlicht. "Nicht deinen. Einen, den du mir überlässt, wenn ich dich rufe. Dafür geb’ ich dir einen Brei, der einen Tag stiehlt, damit ein anderer Tag leben kann."
Marta zog eine Sternanis-Schote heraus, darauf mit blasser Tinte: Rovik, der Läufer mit den schnellen Knien. Ihr Blick blieb auf der Kante des Holzes, wo die Narbe an ihrer Kinnlinie die Maserung durchschnitt. "Nimm ihn, aber ruf nicht leichtfertig." Die Luft schmeckte nach Eisen, die Schuld nach Lakritz. Edda Nachtmahl nickte, nahm die Schote, als werde sie eine Laterne daraus machen.

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Sie kochten. Mohn in der Pfanne, rührend im Takt der Tropfen an der Dachrinne, Gerste im Topf, der Dampf hart wie Winter. Marta justierte die Temperatur des Messers, bis die Klinge einen Ton sang, der die Porzellanschälchen an den Rändern zum Summen brachte — Schwingungen, die Gespräche aufnahmen, Wörter dazu brachten, sich in Brühe zu lösen. Edda Nachtzucker öffnete ihr Regengrau, ließ einen dünnen Faden in den Brei tropfen; er zog Erinnerung an wie Wollfäden in einem alten Pulli.
Währenddessen entkernte Tullia eine Zwiebel so vorsichtig, als wäre sie ein Datenträger. "Die Palate Patrol setzt Schnüffeldrohnen auf die Hauptadern", murmelte sie. "Sie schmecken Lärm. Ich hab’ zwei Nt-Keys, um die Lieferdrohnen tanzen zu lassen, aber wenn der Sirup sitzt, sitzen wir mit."
Über der Stadt knoteten die Gesetze ihre eigenen Rezepte. Zungenbudget auf den Konsolen der Armen, Geschmackslizenzen, die sich wie Plastik um den Hals legten. In den Fenstern flimmerten Werbesuppen, die Gehorsam schmeckbar machten. An den Brücken wachten Sensorhäuschen, die an Schnapsgläser erinnerten: klein, durchsichtig, unerbittlich.
Weit oben, im blanken Bauch des Konservenkonsortiums, legte Aurelia Vorrath eine Hand auf die Matte ihres Prothesenunterarms. In den Gelenken ruhten Messer, Reiben, Sensoren, wie Musiker in einem Orchestergraben. "Einsatz", sagte sie zu niemandem und allen. Der Raum schmeckte nach karamellisiertem Zucker, frisch geschnittenen Kräutern und dem Kupfer einer alten Entscheidung. "Hymne des Schweigens, Phase eins. Kupferzucker an alle Verteiler. Lasst sie an Süße ersticken, falls sie schreien wollen." In einem Nebenkanal hing eine Karte der Stadt wie eine aufgeklappte Zunge.
Der Kupfergeruch in Martas Küche wurde plötzlich schärfer, ein dünner Draht im Dampf. Sie hob Tullias mitgebrachtes Glas gegen das Licht. Zwischen den Schlieren floss etwas, das nicht Regen war: ein Tag, den man verfolgen konnte. "Tagging", sagte Marta tonlos. "Aurelia hat in eure Fermente geflüstert."
Edda Nachtzucker verzog den Mund, als habe sie auf zu bittere Marmelade gebissen. "Kupferzucker. Er bindet an Karamell — und an Schuld." Marta zog einen Faden Karamell aus dem Topf, wickelte ihn um den Glasrand, ihre Klinge kühlte, erhitzte, kühlte wieder, bis der Draht der Spur sich selbst verschluckte. Die Porzellanschälchen bebten, zeichneten das Muster der Hymne nach, und Marta verstaute es zwischen zwei getrockneten Lorbeerblättern wie eine Beleidigung.

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