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Die Eisbergpiratin

Erste 5 Seiten – Kostenlose Vorschau

Eine Frau. Ein Kind. Ein Verlust, der zur Obsession wird.

In einer Welt, in der Wasser kostbarer ist als Gold, tobt ein unsichtbarer Krieg: Eisberge werden gejagt, um Millionenstädte und Industrien am Leben zu halten – oder von Piraten gekapert, die den Durst der Mächtigen bestrafen wollen.

Sie ist eine von ihnen. Eine Überlebende. Eine Mutter, die ihre Tochter Marta in einem Attentat verlor. Seitdem kennt ihr Leben nur noch ein Ziel: Rache. Monat für Monat, am Tag des Todes ihres Kindes, sticht sie mit ihrem U-Boot Pequod ins kalte Herz der Wasserindustrie. Kein Eisberg, kein Konzern, keine Regierung ist vor ihr sicher. Mit jedem Anschlag erinnert sie die Welt daran, wie verletzlich sie ist – und dass es keine Unschuldigen mehr gibt.

Doch der Schmerz frisst sich tiefer in ihre Seele, und der Ruf ihres Kampfnamens »Ahab« hallt über die Ozeane: Eine Frau, die nichts mehr zu verlieren hat, außer der Erinnerung an die Schreie ihrer Tochter.

Eine beklemmende Zukunftsvision voller Wut, Verzweiflung und der Frage: Wie weit darf Rache gehen?

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»Mama! Halt mich! Ich falle …«
Ich schrecke empor, aus meinem unruhigen Schlaf, atme wie immer viel zu schnell und hektisch, greife nach der Tüte, die mir wie jede Nacht hilft, die Hyperventilation zu überwinden.
Heute ist wieder Monatstag. Erinnerungstag. Tag der Rache.
Einen Moment schwanke ich. Soll ich nicht ausnahmsweise … Mir tut alles weh, ich fühle mich am ganzen Körper wie zerschlagen. Gestern bin ich an meine Grenzen geraten.
Ich sollte ausruhen, meinen freien Tag nutzen, einmal nichts tun. Aber nein. Entschlossen schwinge ich die Beine von der Pritsche. Ich werde auch heute wieder einen Eisberg impfen. Das bin ich Marta schuldig.
Stöhnend reibe ich meinen Körper mit dem vitalisierenden Schutzgel ein, das zugleich Barriere ist für Strahlen und Mikroorganismen. Währenddessen lasse ich den gestrigen Tag Revue passieren, versuche, herauszufinden, ab welchem Punkt er sich so katastrophal entwickelt hat.

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Begonnen hatte der Morgen wie üblich, indem ich die Meldungen der IPA, der Ice Pirates Association, kontrolliert habe. Die IPA hat im Wettrüsten gegen die Wasserindustrie im Moment die Nase vorn: Kein Eisberg wird gescannt, genettet oder gar gestartet, ohne dass die IPA nicht alle Daten in Echtzeit zur Verfügung hätte.
 
Als der südafrikanische Kapitän Nick Sloane 2018 die alte Idee der Wassergewinnung aus Eisbergen in ein ernsthaftes Konzept packte und erste Banken und Investoren gewann, wurde er noch belächelt. Doch in den siebzig Jahren seither ist die Wasserbeschaffung mit zur wichtigsten Aufgabe für Regierungen und Unternehmen geworden, vor allem in Staaten mit hoch entwickelter Industrie oder Dienstleistungsgesellschaft – und nur diese können sich die Wasserversorgung durch Eisberge leisten. Aber auch Menschen in ärmeren Ländern wollen leben, trinken, sich waschen …
Ich zucke zusammen. An Blutergüsse und Prellungen bin ich gewöhnt. Die Schmerzmittel, die ich gestern Abend noch genommen habe, sorgen dafür, dass ich sie nur dumpf und unterschwellig wahrnehme, zumal ich sie im Spiegel nicht erkennen kann, auf meiner fast schwarzen Haut fallen sie kaum auf. Doch mich durchfährt plötzlich ein brennender Schmerz in der linken Schulter. Ich drehe mich, um die Rückseite im Spiegel zu sehen, und erschrecke: Aus meinem Rücken tritt oben ein Draht hervor.
Nachdem ich aus dem Gefängnis in Südafrika entkommen war, konnte die Untergrundbewegung meine Folterwunden nur unzureichend behandeln. Immerhin haben sie den Schlüsselbeinbruch mit Drähten soweit stabilisiert, dass ich Schulter und Arm ohne Einschränkungen bewegen kann.
Aber wegen des mangelhaften Materials ist ein Draht gebrochen, ein Rest in meiner Schulter verblieben. Gestern muss ich bei der Rutschpartie über das schorfige Eis gehörigen Druck auf die Schulter ausgeübt haben.

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Ich beiße die Zähne zusammen, öffne den kleinen Medizinschrank und greife nach einer großen Pinzette.
Dann schüttele ich über mich selbst den Kopf. Ich darf mich nicht von Wut und Schmerz zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen.
Ich nehme zunächst ein wirklich starkes Schmerzmittel, decke dann meine Pritsche mit einem wasserdichten Tuch ab. Den Werkzeugkasten finde ich im Maschinenraum, mühsam klettere ich die Leiter hinab.
Mein U-Boot ist eines des modernsten der IPA, ein Klasse-214-Exportmodell der Howaldtswerke-Deutsche Werft von 2033, aber auch dieses moderne Unterwassergefährt ist eng und nicht auf Bequemlichkeit gebaut. Selbst 65 Meter Länge und gut sechs Meter Breite erlauben nur schmale Durchgänge und elendig unbequeme Auf- und Abstiege. Immerhin gibt es genug Platz in der Kombüse und den Schlafräumen; die vorgesehene Besatzung von 27 Leuten ersetze ich ganz alleine, und dank (natürlich illegaler) Einbauten durch IPA und modernster KI kann ich mein Schiff auch alleine steuern. Jetzt aber verfluche ich die Enge; es dauert gefühlt Stunden, bis ich alles Notwendige in meine Schlafkoje geschafft habe.
Ich desinfiziere großzügig den oberen hinteren Bereich meiner Schulter, injiziere mit einer Impfpistole ein Lokalanästhetikum, schlucke ein Betäubungsmittel, das mich für die ersten Stunden nach dem Eingriff leicht sedieren soll, lege mich auf die Pritsche und setze die Zange an den Draht an.
 

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»Mama! Halt mich! Ich falle …«
Ein Alptraum. Immer wieder dieser Schrei.
Das Betäubungsmittel hat mich, wie beabsichtigt, nicht ganz in die Bewusstlosigkeit getrieben; ich schwebe in einer Art Halbschlaf dahin, sehe, höre, fühle … Szenen aus der Vergangenheit.
Mein erster Einsatz als Eisbergpiratin. Ich hatte noch kein eigenes U-Boot, lebte mit meiner kleinen Marta im großen Gemeinschaftsboot, das nach dem Schiff eines frühen Untergrundkämpfers benannt ist, der »Nautilus«.
Marta – auch wenn sie Frucht einer Vergewaltigung im Gefängnis war, war sie mein Ein und Alles, mein Augapfel, die Liebe meines Lebens … 
Es war eine Standardoperation: ein Eisberg, ein Kilometer lang, etwa ein halber breit und mit einer Dicke von rund 200 Metern.

Seite 5

Die staatlichen Wassertransporteure von Südafrika hatten den Koloss, der etwa 100 Millionen Tonnen wog, wie immer von Robotern in ein Netz aus Kunststofffasern packen lassen und zogen dann den genetteten Eisriesen mit Hilfe von drei gigantischen Schleppern, gesteuert von modernster KI und angetrieben von Solarstrom und Windenergie, von der Antarktis über den Zirkumpolarstrom und dann den Benguelastom nach Norden.
Wenn man den Eisberg in Südafrika gut einpackte und isolierte und das Süßwasser von der Oberfläche abpumpte, dürften rund zwei Drittel des Wassers in die Leitungen der gierigen Metropolen und Industrieanlagen und auf Ackerflächen fließen.
Ein solcher Rieseneiswürfel konnte den Wasserbedarf von Kapstadt für zwei Monate befriedigen.
Für die rund 2500 km rechnete die Wassergesellschaft mit acht bis 10 Tagen. Doch der Eisberg sollte nicht ankommen. Am vierten Tag war er verschwunden.
Ich sehe das Videobild des Eisbergs, die Satelliten-Aufnahmen, die uns den Weg weisen, alles sehr verschwommen, vernehme ganz undeutlich die Stimme der Navigatorin und Ausbilderin, die uns die Bilder erklärt, dann wird alles schwarz. Ich höre nur noch eine donnernde Stimme, deutlich, laut, dröhnend, und weiß, das ist Tiny Mandela, der Gründer und Leiter der IPA, der sich nach zwei seiner Helden und Vorbilder benannt hat.
Allen, die neu dazukommen, erzählt er von Timothy »Tiny« Truckle, dem genialen kleinwüchsigen Detektiv, den der deutsche Schriftsteller Gert Prokop vor gut 100 Jahren erfunden hat und der in einer dystopischen USA als geheimer Verbündeter des Untergrunds die Diktatur der Großkonzerne, der Geheimdienste und Big Bosse bekämpft. Und ich weiß, ich höre jetzt in meinen drogeninduzierten Erinnerungen Tiny Mandela, wie er uns Neuen quasi eine Predigt hält:

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