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Das Versprechen des Schmerzes

Erste 5 Seiten – Kostenlose Vorschau

Das Ende Draculas war erst der Anfang.

Am 28. März 2027 zerbarst der Fürst der Vampire in einem Strahlen aus weißem Licht – und hinterließ seinen Kindern ein düsteres Rätsel: Innerhalb von fünf Jahren sollten sie sein Vermächtnis finden, oder dem Untergang anheimfallen. Fünfzig Auserwählte machten sich auf die Suche – und einer allein kehrte zurück.

Franz von Hartmann, der jüngste unter ihnen, überlebte als Einziger und brachte nicht nur Draculas Vermächtnis zurück, sondern eine noch ältere, weit gefährlichere Wahrheit: die Offenbarung des Nosferatu, des Vaters des Schmerzes, Schöpfers aller Vampire.

Was als Ratsversammlung der Kinder der Nacht begann, endete in einem apokalyptischen Bekenntnis – und in der Geburt eines neuen Hohepriesters, der das Zeitalter der Dunkelheit einläutet.

Budapest, Silvesternacht 2031: Der Rat der Vampire löst sich auf. An seine Stelle tritt der Kult des Schmerzes – und mit ihm eine Zukunft voller Blut, Pein und endloser Nacht.

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Protokoll des Treffens der Nachtschwärmer am 31. Dezember 2031, Budapest, Hotel Hilton
Nach der Begrüßung der Ratsmitglieder und Eröffnung der Sitzung pünktlich um 22:22 Uhr durch unsere verehrte Ratsvorsitzende und Präsidentin Mircalla von Karnstein berichtete der Geheime Gesandte Franz von Hartmann, dass und wie er die Aufgabe erfüllt hat, die der Rat ihm und anderen Auserwählten vor knapp fünf Jahren gestellt hatte. Er ist der letzte von ihnen, der einzige der Fünfzig, der nicht den endgültigen Tod erleiden musste. Doch das genügt, um unser gesamtes Weltbild zu erschüttern. Ich will aber versuchen, trotz der bei mir immer noch nachklingenden Erregung diese Niederschrift im gewohnten trocken-seriösen Stil zu gestalten, wie unser neuer Meister es mir aufgetragen hat.
Von Hartmann begann mit einer Zusammenfassung seiner Aufgabe und Erlebnisse der letzten Jahre, insbesondere für jene unter uns, die damals noch nicht dem Rat angehörten. Ich übernehme seinen Bericht in Teilen wörtlich:
»Verehrte Ratsmitglieder,
ich muss wohl niemanden von Ihnen erinnern an den Schock, den der endgültige Tod unseres aller Meister Dracula vor fast fünf Jahren ausgelöst hat. Der 28. März 2027 wird immer als einer der wichtigsten Tage in der Geschichte unserer Spezies in unser aller Gedächtnis bleiben. Auch ich erinnere mich, wie wohl die meisten von uns, noch sehr genau daran, was ich getan habe und wo ich war, als ich von dem denkwürdigen Ereignis erfuhr, vor allem aber daran, was es für mich für einen Schock und eine Ehre bedeutete, von unserer verehrten Präsidentin, damals Stellvertreterin des Meisters, mit den anderen neunundvierzig Auserwählten mit der Aufgabe betraut zu werden, Draculas Testament zu finden und zu erfüllen. Uns ist nicht nur das gelungen, sondern wir haben sogar viel mehr gefunden: Auf diesem Tisch, verborgen unter den schwarzen Samttüchern, sehen Sie das Vermächtnis von Draculas Erschaffer!«
Ich habe nie zuvor einen solchen Tumult bei einer unserer Versammlungen erlebt. Gräfin Karnstein brauchte Minuten, um wieder für jene Ruhe und Ordnung zu sorgen, die sich für Wesen unseres Schlages und vor allem unseres Alters und unserer Erfahrung geziemt. Außer von Hartmann war niemand im Saal jünger als zweihundert Jahre, aber er, der Jüngste, blieb als Einziger ruhig. Denn er alleine kannte ja schon den Inhalt von Draculas Vermächtnis, wusste um das Geheimnis unserer Herkunft und konnte ermessen, welche Aussicht auf eine glorreiche Zukunft uns Draculas Nachlass eröffnen würde, er alleine kannte die Macht der alten Sprache und der heiligen Worte – und nur er wusste um das kommende Zeitalter des Schmerzes.

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Doch ich will der Reihe nach berichten, wie es sich für ein ordentliches Protokoll gehört.
Wer erinnert sich nicht an das Rätsel, das uns unser aller Meister, der große und geheimnisumwitterte Dracula, mit seinem Tod hinterlassen hat? Wie jedes Jahr hatte er alte Freunde, Weggefährten und Verbündete auf sein Schloss geladen in der Nacht zum Ostersonntag, denn dieses war der Jahrestag seiner eigenen »Auferstehung«, wie er immer wieder erzählt hatte. Doch in jener Nacht nahm das Ritual einen offensichtlich nicht von Dracula geplanten Verlauf. Er stand am Kopfende der großen Tafel, hob den silbernen Kelch mit Jungfrauenblut und wollte einen Trinkspruch ausbringen, als er plötzlich von innen mit hellem weißen Licht zu strahlen begann. Und immer stärker strahlte es von seinem Herzen her, er rührte sich nicht und stöhnte nur leise, und schließlich platzte der Meister, und stinkende schwarze Flocken sammelten sich in der Luft und ließen sich auf der weiß gekalkten Wand hinter seinem Thronsessel nieder. Wie alle, die dabei waren, habe ich den Text, der sich daraus bildete, noch vor Augen:
»Meine Kinder, das Ende ist nahe. Fünfhundertfünfzig Jahre bin ich auf Erden gewandelt als der, der ich war und sein durfte. Doch ich habe versagt, und nun ist meine Zeit um – und die eure, die meiner Nachfahren, begrenzt. Findet mein Vermächtnis und erfüllt es, und euch steht eine glorreiche Zeit bevor. Findet ihr es nicht innerhalb der nächsten fünf Jahre, ist es euer aller Verderben!«
Von Hartmann berichtete in der gebotenen Kürze, aber doch mit spannungsreichen und bewegenden Worten von der lange Zeit vergeblichen Suche der fünfzig Auserwählten. Unterstützt vom Rat mit modernsten Recherchemethoden und mancherlei Ratschlägen streiften sie nach Draculas Tod Monat um Monat, Jahr um Jahr durch die Welt, durchsuchten alle seine Wohnorte und Ruhestätten auf der Suche nach seinem Vermächtnis. Doch ein böser Fluch schien sie zu verfolgen: Jeden Monat starb einer von ihnen den endgültigen Tod, immer an einer von Draculas Heimstätten, stets auf unerklärliche Weise. Im Herbst dieses Jahres war nur noch von Hartmann als letzter der fünfzig übrig, und der Rat beratschlagte, ob es sinnvoll sei, eine neue Truppe aufzustellen. Dann hörte man nichts mehr von diesem letzten unserer Agenten, bis er sich vor wenigen Tagen meldete. Ich überlasse nun ihm selbst, von Hartmann, das Wort.
»Als ich als Einziger übrig war, beschloss ich, den Kontakt zum Rat abzubrechen. Er hatte niemandem von uns zu helfen vermocht, was also sollte es schaden? Wir hatten alle Orte aufgesucht, an denen sich nach unserem Kenntnisstand Dracula länger aufgehalten hatte. Und jeden Monat war einer von uns dahingeschieden. Wahrscheinlich standen mir nur noch wenige Tage zur Verfügung. Ich war verzweifelt, und so beschloss ich, einer unwahrscheinlich anmutenden Hoffnung nachzugehen. Niemand wusste, wer Dracula vor seiner Verwandlung gewesen war, aber es gab ja genügend Gerüchte. Und eines Nachts fiel mir während meiner Grübeleien auf, dass Draculas ›Auferstehung‹ ja wohl am Ostersonntag des Jahres 1477 stattgefunden haben musste, wenn die fünfhundertfünfzig Jahre stimmten. Was, wenn die Verwandlung einige Monate gedauert, also erheblich früher begonnen hatte? So beschloss ich, dorthin zu fahren, wo nach allgemeiner Überlieferung um die Jahreswende 1476/77 eines der immer wieder genannten Vorbilder für Dracula begraben worden sein soll: ins Kloster von Snagov, zur Kirche auf der Insel im gleichnamigen See, zum angeblichen Grab von Vlad III. Drăculea, genannt Țepeș, der Pfähler, damals Woiwode des Fürstentums Walachei.
Ich weiß natürlich, dass Vlad geköpft und sein Haupt in Honig konserviert dem Sultan zum Geschenk gemacht worden sein soll. Aber wer sagt, dass der Kopf, der in Konstantinopel auf einer Stange aufgespießt zur Schau gestellt wurde, wirklich der des Vlad Drăculea war? Vielleicht ließ er ihn austauschen ... oder jemand, der sich seiner noch bedienen wollte. Sein Leichnam soll von der Insel im See von Snagov verschwunden, das Grab leer sein. Ich wollte mich selbst überzeugen, es war ein letzter verzweifelter Versuch.

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Auf die Insel, in die Kirche und an das Grab zu kommen wäre für einen Menschen schwierig gewesen, für mich war es ein Kinderspiel. Ich bin zwar erheblich jünger als alle anderen hier im Saal, aber Sie, verehrte Ratsmitglieder, haben mit uns fünfzig die stärksten, klügsten, geschicktesten und in Geheimdienstarbeit erfahrensten Vampire ausgewählt, und ich bin einer der besten.
Um es kurz zu machen: Das Grab war leer. Doch in einer geheimen Nische, die ein Mensch nie entdeckt hätte, fand ich ein altes Pergament, beschrieben in kleiner zarter Schrift, nur mit Vampiraugen zu lesen, verfasst in altem, oft fehlerhaftem Kirchenlatein, gemischt mit dem altertümlichen Deutsch der Siebenbürger Sachsen, beides, wie es vor Jahrhunderten üblich war. Wie manche hier wissen, habe ich vor meiner Verwandlung Theologie und Philosophie studiert, ich bin des Lateinischen wie des Griechischen und des Hebräischen mächtig. So konnte ich die Wegbeschreibung und die beigefügte Karte entziffern. Sie war ohne Unterschrift, und sie führte mich schließlich zu Draculas Vermächtnis: in die uralte unterirdische Stadt W’Smai, auf einer Insel vor der Küste Englands. Auf dieser modern bebauten Insel fand ich in jener Nacht, in der ich damit rechnen musste, den ewigen Tod zu erleiden, mit Hilfe der alten Karte den geheimen Eingang in die unterirdische Stadt, in deren kühle und dunkle Tiefen ich in jener schwülen Sommernacht vor wenigen Monaten hinabstieg. Und so habe ich überlebt.
Ich will Sie nicht langweilen mit einer Erzählung von den kalten Tagen und noch kälteren Nächten, die ich in den unterirdischen schwarzen Gemäuern der alten Stadt zubrachte, von den feuchten Höhlen und tiefen Grüften, von den mir endlos erscheinenden Stunden in zerfallenen Tunneln und von jenen Tagen und Nächten, die ich im Dunkeln verschüttet war und schon mit meinem Leben abgeschlossen hatte. Ich werde die Stadt ausgewählten Ratsmitgliedern später zeigen, doch sollten sich nur die psychisch stabilsten und geistig gefestigsten dort hinunter wagen – auch für uns Kinder der Nacht und Meister der Grausamkeit gibt es Grenzen des Erträglichen. Deshalb will ich nur andeuten, was ich in den Wochen dort unter der Erde sah und erlebte: unglaublich boshafte Gemälde und Fresken, Statuen voller Grausamkeit, seltsame Winkel und Schrägen, die mich auf ebener Erde seekrank werden ließen und von denen ich nicht zu sagen weiß, ob sie von deren Erbauern so geplant oder durch den Zerfall der Stadt so entstanden sein mochten. Manchmal fragte ich mich, ob einer meiner Lieblingsschriftsteller einst hier gewesen sein könnte, und sei es nur in seinen Träumen, denn nicht selten fühlte ich mich an Geschichten von Lovecraft erinnert!
Mehr will ich hier und heute nicht berichten; all die seltsamen und grausigen Ereignisse jener Wochen sind auf immer verbannt in die hintersten Winkel meines Bewusstsein, von wo ich sie nur hole, wenn ich der Stärke bedarf – und jener Verrücktheit, die mich dort zeitweise überkam und die so gut passt zu meiner neuen großen Aufgabe.
Berichten will ich aber von den Ergebnissen meiner Suche, denn sie veränderten meine Weltsicht und werden bald auch unser aller Welt und Wesen bestimmen. In den Katakomben der vergessenen Stadt stieß ich auf die Bibliothek der Bewohner der alten Stadt W’Smai, und dort fand ich nicht nur Draculas Vermächtnis, sondern auch das uralte Pergament, das von jenem berichtet, der ihn einst zu dem machte, was er war, und uns, seine Nachfahren, noch viel größer machen wird – jenes Schriftstück, das mit der Kraft uralter Zauber und mächtiger Sprache die Wirklichkeit zu gestalten vermag. 
Ehe ich Ihnen Draculas Vermächtnis enthülle, möchte ich Ihnen jenes alte Pergament zur Kenntnis bringen, das in Zukunft unsere Heilige Schrift sein wird. Denn jener Gott, dessen Anhänger in früheren Zeiten dieses niedergeschrieben hatten, ohne ihn jemals wirklich zu verstehen, ist es, der unser aller Vater und Meister Dracula geschaffen hat, und erst nachdem Sie dieses gehört haben, werden Sie die Größe der Aufgabe ermessen können, die uns Dracula in seinem Vermächtnis auferlegt.«

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Von Hartmann entfernte mit ernster Miene und feierlicher Gestik eines der Samttücher und entrollte die bisher darunter verborgene große Schriftrolle. Währenddessen erläuterte er: »Dieses Pergament ist in einer Schrift und Sprache geschrieben, weitaus älter als das Gilgamesch-Epos und die Vinča-Symbole. Kein lebendes oder untotes Wesen ist dieser Sprache mächtig, kann die Schriftzeichen lesen oder ihren Sinn erfassen – es sei denn, es wird ihm von deren Erschaffer gewährt. Und so geschah es mir. Denn nachdem ich Draculas Vermächtnis gelesen hatte, versuchte ich Stunde um Stunde, den Inhalt dieses Pergamentes zu verstehen, ohne den Draculas Anweisungen für mich sinnlos waren. Ich war dem Tode nah, als ich, der bekennende Agnostiker, schließlich IHN anrief, den Dracula als seinen Meister bezeichnete. Und unser HERR öffnete mir die Augen, und die Schriftzeichen ergaben plötzlich einen Sinn, und ich konnte den Text lesen und verstehen, als sei er in einer modernen Sprache geschrieben.
Und nun ist es an der Zeit, dass ich euch vertraut mache mit der Schrift, die unser aller Schicksal bestimmen wird; ich werde sie jetzt und hier während des Lesens in unsere moderne Sprache übersetzen. Höret und lauschet wohl und vermerkt alles in eurem Gedächtnis.«
Und er begann zu deklamieren:
»Am Anfang war der Schmerz.
Und der Schmerz ward Fleisch.
Und als das Fleisch geschaffen war, regte es sich und dürstete nach Blut. Und sein Herr gab ihm zu eigen das Blut aller lebenden Wesen, und es war eitel Frohlocken unter den Kindern des Schmerzes.

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Doch da waren der Götter viele, die waren voll der Eifersucht auf den Vater des Schmerzes, war er doch nicht nur der erste aller Götter, sondern der einzige unter ihnen, dessen Macht es gegeben war, Leben zu schaffen. Und sie waren gar erbost über ihn, hatte er doch den Schmerz in die Welt gebracht, unter dem nun auch sie zu leiden hatten.
Und so riefen sie an den Allgott, ihren Schöpfer, zu strafen ihn, Nosferatu, den Vater des Schmerzes.
Und der Allgott rief alle Götter vor sein Angesicht, zu richten und zu strafen, und vor ihn trat in all seiner Macht und Herrlichkeit unser Herr, und er beugte als Einziger nicht sein Knie noch neigte er sein Haupt.
Und es erschienen zahlreiche Götter, anzuklagen den ersten der Söhne des Allgottes. Doch als Nosferatu sich erhob, zu führen seine Widerrede, schwiegen sie beschämt, und es sprach einzig unser Herr. Und dies ist, was er seinen Brüdern und Schwestern entgegenhielt:
›Einst schuf unser aller Vater die Götter. Und er schenkte uns das Leben und die Freude und die Lust, und er gab uns das All mit seinen Wesen, zu herrschen und der Welt Geschicke zu lenken. Doch die Geschöpfe, die diese Welten bewohnen, sind gar dumm, sprachlos und unfähig der Weisheit, und es ist kein Vergnügen, über sie zu herrschen. Und die Gefühle, die sie uns zeigen, sind gar ohne Reiz. Dies zu ändern, war mein Wille und Begehr.
Und wie einst unser Schöpfer schuf ich aus mir etwas Neues, und wie einst unser Herr erschuf ich ein Gefühl, exquisit und stark, immer wieder aufs Neue zu erleben und zu erleiden, und ich nannte dieses Gefühl: ›Schmerz‹.

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